Ich führe – und es ist langsam an der Zeit, das allen, die mich zu kennen glauben, einzugestehen – ich führe ein Doppelleben.

Ich, der Steuersekretär Matschke. Sitze vor meinem Schreibtisch. Vor mir liegt der Steuerbescheid i.S. Giovanni Ragazzi. Der Chef, Herr Meier, hat ihn mir zurückgegeben. Ohne grosse Worte.

„Schreiben Sie das nochmals Matschke. Wir fordern, nicht wir gewähren. Heute Nachmittag will ich einen neuen Bescheid auf meinem Pult liegen haben. Verstanden?“

Was weiss der Meier schon von Giovanni Ragazzi und dessen Lebensumständen. Signor Ragazzi hat es schwer im Leben. Und so wollte ich ihm einen kleinen Steueraufschub gewähren. Aber eben, wir gewähren nicht, wir fordern.

Als der Chef vor mir stand, konnte ich einfach nichts darauf entgegnen. War sprachlos. Aber jetzt weiss ich was zu tun ist. Denn ich habe noch ein zweites Ich. Ich führe ein Doppelleben. Wann immer ich solche Probleme wie mit Meier nicht lösen kann, schlüpfe ich in meine Rolle als „Umbrello, der Mann mit dem Zauberschirm“. Ja, ich habe einen Zauberschirm. Wenn ich den aufspanne und mich darunter stelle, bin ich für die Umwelt unsichtbar. Schnell gehe ich zu meinem Garderobeschrank und hole meinen Schirm. Klack, er ist offen. Nach ein paar Sekunden bin ich unsichtbar. Ich sehe in den Spiegel, nichts zu sehen von mir. Es funktioniert. Ich trete auf den Flur hinaus. Eile zum Büro des Chefs. Türe auf, Türe zu, ich bin drin. Verwundert blickt Meier auf. Schüttelt den Kopf. Vertieft sich wieder in seine Arbeit. Ich trete hinter ihn und umfasse seinen Stuhl, drehe ihn geschwind herum. Meier schreit auf. „Hilfe, Hilfe“. Niemand scheint ihn gehört zu haben. Nun rede ich ihn mit Grabesstimme an: „Lassen Sie den Matschke in Ruhe seine Arbeit tun, er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Verstanden? Sonst komme ich wieder!“

Käsebleich sitzt Meier da, weiss nicht wie ihm ist. Ich geniesse kurz sein verstörtes Gesicht und trete wieder in den Flur hinaus. Schnell in mein Büro zurück. Den Schirm in den Kasten stellen und ein Dossier aufschlagen sind eins. So wie wenn nichts gewesen wäre.

Ich höre schwere Schritte, die auf meine Bürotüre zukommen. Die Klinke bewegt sich und Meier tritt ein. Immer noch käsebleich und mit Schweisstropfen auf der Stirn.

„Matschke, ich weiss, es kann nicht sein, aber ich hätte schwören können, dass Sie vorhin in meinem Büro waren und zu mir gesprochen haben. Mich in meinem Sessel Karusell fahren liessen.

„Aber Herr Meier, das kann wirklich nicht sein. Dann müsste ich ein Zauberer sein oder gar unsichtbar. Und ich war die ganze Zeit hier“

„ja, ja, ja, ja Matschke ist schon gut. Aber worüber ich mit Ihnen sprechen wollte. Diesen Fall, Giovanni Ragazzi, also das machen wir so, wie sie es vorgeschlagen haben. Geben Sie mir den Bescheid nochmals, ihr Vorschlag ist genehmigt, ich unterzeichne.“

Und Herr Meier zückte seinen Füllfederhalter ..